Was ist es nur was uns treibt mal hierhin und dorthin dem Geist unseres Denkens folgend

Helmut Nagel

Die Begegnung

Ich lernte Helmut Nagel ganz zufällig kennen.

Beim Tag der offenen Tür der VHS Hagen saß ich gemütlich mit Freunden und Dozenten in der Cafeteria, als er den Raum betrat. In der allerersten Sekunde war ich fasziniert von dieser Erscheinung. Es lag nicht an einer Geste von ihm, auch nicht an seinem Gang, seinem Gesichtsausdruck oder was auch immer. Ich kann gar nicht sagen, woran es lag. Sein ungewöhnliches Aussehen hat mich auf ihn aufmerksam gemacht, aber auch das löste nicht dieses Kribbeln aus, was sofort den Gedanken in mir hervorbrachte: „Mit diesem Mann möchte ich eine Portraitserie machen!“ Ich fragte in die Runde, ob ihn jemand kennt. Nein, keiner kannte ihn. Nun saß er mir gegenüber an einem Tisch auf der anderen Seite des Raumes und ich glaube, ich starrte ihn regelrecht an. Manchmal schaute er irritiert zu mir herüber, trank dabei aber ganz in Ruhe seinen Kaffee weiter. Irgendwann stand er auf und wollte gehen. Ich schaute ihn weiter an, er lächelte und blieb bei uns stehen. Wir kamen ins Gespräch. Er lachte unvermittelt und setze sich mit dem Hinweis: „Ich quatsche gerne!“ zu uns. Schon bald erzählte er uns einige Anekdoten aus seinem Leben. Amüsantes und Kurioses kam dabei zum Vorschein, aber auch Nachdenkliches und Faszinierendes. Meine Freunde und ich tauschten immer wieder Blicke aus, in denen man lesen konnte: Ist das nun ein Spinner oder stimmen all diese Dinge? So hakten wir bei einigen Geschichten einfach mal nach, und obwohl die Schilderungen oft schräg und abenteuerlich klangen, erschienen sie uns doch glaubhaft. Immer wieder warfen wir uns untereinander amüsierte und ungläubige Blicke zu. Eins hat Helmut damit geschafft: Er hat bei uns bleibenden Eindruck hinterlassen. Er sei kein Held, sagte er. Vielmehr sei er ein Antiheld. Er sei auch kein Künstler. Aber Ideen, die habe er viele! Und doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass er genau das ist: Ein Held und Künstler, wenigstens aber ein Lebenskünstler. Da musste ich ihn einfach fragen, ob er sich von mir fotografieren lässt! Telefonnummern wurden getauscht, Auf Wiedersehen gesagt. Tage sind seitdem vergangen, und immer noch beschäftigen mich seine Geschichten. Ich glaube, heute ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich ihn anrufe und frage, ob er sich mit mir treffen mag!

„Ich bin kein Held. Ich bin ein Antiheld.“

Genau dieser Satz ist bei mir hängengeblieben, nachdem ich Helmut Nagel das erste Mal getroffen habe. Dass ich diese Geschichte hier aufschreiben kann, ist für mich selbst genauso erstaunlich, wie auch für Helmut. Wir sind uns zufällig begegnet und waren uns trotzdem innerhalb weniger Augenblicke einig, dass wir etwas gemeinsam erschaffen werden. So richtig wusste keiner von beiden, was daraus werden soll. Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich deutlich seine Stimme: „Manchmal muss man die Dinge auch einfach mal laufen lassen und später sehen, was dabei heraus gekommen ist.“ Helmut Nagel ist ein außergewöhnlicher Mann. Nicht in dem Sinne, wie die meisten einen außergewöhnlichen Menschen beschreiben würden. Er ist anders. Er fällt auf. Durch sein Aussehen, seine Art und sein Lachen. Zottelige graue Haare und ein langer Bart, diese Merkmale fallen als erstes ins Auge. Und meistens ziert seinen Kopf irgendeine Art von Hut oder Mütze. Kommt er in einen Raum, dann zieht er die Blicke auf sich. Ich habe beobachtet, dass die meisten ihn skeptisch beäugen. Stehe ich neben ihm, dann bekomme ich des öfteren einen wissenden Blick zugeworfen. So, als wäre Mitleid mit darin, als ob es für mich eine Strafe sei, mit diesem Mann unterwegs sein zu müssen. Vielleicht denken die Menschen auch, ich wäre seine Betreuerin. Wenn Ihr doch einfach mal hinhören würdet, was er zu sagen hat, denke ich mir dann. Was aber gleich die Frage aufwirft: Warum urteilt man so schnell über das Aussehen? Viel zu schnell schließen wir vom Aussehen und von der Körpersprache eines Menschen auf seinen Charakter. Doch mir persönlich ist das zu oberflächlich. Ich will wissen, was hinter den Fassaden steckt.

„Sie sind mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen.“

Ich habe ihn also tatsächlich angerufen. Und was erreiche ich? Den Anrufbeantworter. Ich habe irgendetwas darauf gesprochen wie: „Hallo, ich bin´s, Heike Thomese, die Fotografin. Wir haben uns in der VHS Hagen getroffen. Sie erinnern sich? Sie sind mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen…“ Am Schluss war ich mir nicht sicher, ob dieser Mann zurückruft. Nachmittags klingelte mein Telefon. Es war tatsächlich Helmut Nagel. Er hat sich dann mit mir verabredet, um mir mehr aus seinem Leben zu erzählen. So bin ich an einem Mittwoch Nachmittag zu ihm nach Hause gefahren. Seine Klingel funktioniert nicht. Mist, das hatte er mir gesagt, deswegen solle ich kurz anrufen, wenn ich vor der Tür stehe. Schlauerweise liegt seine Telefonnummer bei mir zuhause auf dem Schreibtisch. Was nun? Das Haus sieht ansonsten nicht sehr bewohnt aus. Es ist das Gebäude einer Spedition, deren Firmenschild prangt groß an der Hauswand. Ich drücke einfach mal auf alle Klingelknöpfe. Als ich schon gehen will ruft eine zarte Stimme über mir. „Hallo?“ Während ich einer älteren Dame erkläre, dass ich gerne zu Helmut Nagel möchte, öffnet sich die Haustür. Er hatte mich gehört. Helmut erzählt mir, dass er ziemlich aufgeregt sei. Was man ihm auch anmerkt. Seine sonst tiefe und sonore Stimme ist hoch, er redet ohne Punkt und Komma. Ich selbst dagegen bin ziemlich ruhig, was mich selbst erstaunt. Und als ich seine Wohnung betrete, habe ich auch gar keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, was ich hier eigentlich mache. Ein kleiner Flur, nach links und rechts gehen jeweils zwei Türen ab, geradeaus scheint das Bad zu sein. Es ist dunkel und relativ kühl. Links die Türen sind geschlossen, nach rechts ist alles offen. Bis auf die Fensterläden, die sind alle heruntergelassen. Deswegen ist es auch so düster. Eine trübe Lampe brennt, und als sich meine Augen an das Licht gewöhnt haben, sehe ich es: Die Zimmer sind voll mit einer wirren Sammlung, bestehend aus allem, was unsereins in den Müll schmeißt. Sofort poppt vor dem inneren Auge das Bild eines Messis auf, aber so ist es nicht. Alles steht in einer gewissen Ordnung, ohne ein Körnchen Staub, in Regalen und Vitrinen. Noch mehr fasziniert mich, dass Helmut Nagel genau weiß, was er wo verstaut hat. Als ich beide Zimmer angeschaut habe und schon denke, dass das alles ist, sagt er zu mir: „Jetzt zeige ich Ihnen noch den Keller und dann fahren wir zu meinem Lager.“ Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hätte er noch zwei Garagen. Aber die sind uninteressant, meint er. In meinem Kopf hatte ich ein Bild vor Augen, welches wahrscheinlich jedem direkt in den Sinn kommen würde: Räume voller Trödelkram und Gerümpel, durch die man sich kaum bewegen kann. Naja, ich hab´s angefangen und nun bringe ich es auch zu Ende. Wir gehen also in den Keller. Der ganze Hausflur ist recht sauber. Frisch renoviert kann man nun gerade nicht dazu sagen, aber ordentlich. Helmut schließt eine Tür nach der anderen auf und zeigt mir die Räume, macht dabei Scherze wie: „Deswegen habe ich alle Nachbarn raus geekelt, ich brauchte deren Kellerräume.“ Und lacht sein einzigartiges Lachen. So eine Art Kichern, aber laut und übers ganze Gesicht ausbreitend. Der Körper bebt dabei, und man muss zwangsläufig mitlachen. Ohne viel Enthusiasmus betrete ich den ersten Kellerraum. Und staune! Auch hier sind so viele Sachen, gibt es so vieles zu entdecken. Alles ist ordentlich in Kartons geordnet und verstaut, Kleidung auf einer Kleiderstange aufgehängt. Ein wahres Sammlerparadies sind alle diese Räume. Ich glaube, ich habe in dieser Zeit öfter mal gesagt: „Das ist Wahnsinn.“ Mir fiel nichts Besseres dazu ein. Irgendwie war ich nun doch auf das sogenannte Lager gespannt.

Lager? Von wegen! Das ist ein Museum!

Bevor wir losfahren muss erst alles akribisch durchdacht werden. Was muss mit, was muss erledigt werden, ist alles an Ort und Stelle? Dann packt er seinen Schlüssel, der wie ein großer Dietrich aussieht, nimmt eine Tasche und verstaut sie in meinem Auto. „Wenn wir schon dorthin fahren, dann kann man das auch gleich mit was Nützlichem verbinden und einige Sachen mitnehmen.“ meint er so nebenher. Von der Straße aus geht es durch eine schmale Einfahrt in einen Hinterhof und wir stehen vor einem alten Fabrikgebäude. An der Tür hängen Schilder von Künstlern, Musikbands proben wohl auch in den alten Räumen. Durch einen Flur geht es ein paar Treppen rauf, überall stehen Kunstwerke von den ansässigen Künstlern. Ein paar Geschichten darüber erzählt mir Helmut Nagel im Vorbeigehen. Ihm zuhören macht einfach Spaß, weil er nie die gleichen Geschichten erzählt. Wie beneide ich ihn, weil er sich so detailgetreu an vieles erinnern kann. Hoffentlich gelingt mir das auch, wenn ich seine Geschichte aufschreiben will, denke ich.

Eigentlich wollte ich die meiste Zeit mein Aufnahmegerät mitlaufen lassen. Aber verflucht nochmal, ich finde das Ding einfach nicht wieder! Immer lag es auf meinem Schreibtisch, jeden Tag habe ich es gesehen. Und jetzt, wo ich es brauche, da hat es sich aufgelöst! Ich habe nicht die geringste Idee, wo das olle Teil hin ist. Schubladen mit kompletten Inhalt habe ich ausgekippt, aber nichts. Dafür habe ich Sachen wiedergefunden, die ich vor langer Zeit mal gesucht habe. Und Sachen, von denen ich gar nicht mehr weiß, dass ich sie jemals besessen habe. Zwischendurch kam mir der Gedanke, ob ich Helmut nicht einfach mal durch unsere Wohnung und den Keller stöbern lasse. Wer weiß, was er da so alles entdeckt.

Fundgrube der Vergangenheit

Nun ja, ich schweife ab. Vom Aufnahmegerät gibt es jedenfalls keine Spur. So muss ich mein Gedächtnis trainieren, ist ja auch nicht schlecht. Wir stehen vor einer Eisentür in dieser alten Fabrik. Hell und freundlich wirkt es hier. Die Tür geht auf , das Licht wird angeknipst, und mir fällt die Kinnlade herunter! Das ist kein Lager! Das ist ein Museum! Ein langer schmaler Flur erstreckt sich vor mir. Gemälde, riesengroß, hängen an den Wänden. Nach rechts gehen drei Türen ab. Er schließt den nächsten Raum auf, macht das Licht an und ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das kann doch nicht sein! Dreimal, viermal frage ich nach, ob das sein Lager ist? Man stelle sich ein Museum vor, in dem Bilder an der Wand hängen, Schallplatten geordnet in Regalen und Bücher vieler Zeitepochen in den Schränken stehen. Puppen, Nippes, Kleidung und was nicht alles noch sind hier zusehen. Ein reines Erlebnisreich. Vor manchen Sachen bleibe ich stehen und denke, dass kenne ich, meine Eltern, Oma, Tanten und Onkels hatten all diese Sachen früher zuhause. Ich fühle mich so sehr in die Vergangenheit versetzt, dass ich kindlich begeistert durch die Räume ziehe und mir alles genau ansehe. Man kann sich gar nicht vorstellen, mit welcher Liebe und Leidenschaft hier jemand gesammelt hat. Und nicht nur einfach gesammelt, sondern liebevoll zusammengestellt und dekoriert.

Es wird Zeit, dass dies alles nicht mehr nur hinter verschlossenen Türen bleibt!

Während ich dieses hier schreibe (ich bin stark erkältet), kommt ein Anruf:
„Einen schönen Guten Abend, ´tschuldigung, dass ich störe! Ich wollte nur kurz sagen: Ich habe mit meinem Verteidigungsministerium gesprochen. Und ich habe noch Abwehrkräfte über! Die wollte ich nur eben rüber schicken, zwecks Gesundheit und so.
Nun ja, das war es auch schon.“

Und legt auf…

So isser!